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Dagstuhl Seminar 99321

Astromomie und Informatik

( Aug 09 – Aug 12, 1999 )

Permalink
Please use the following short url to reference this page: https://www.dagstuhl.de/99321

Organizers
  • R. Wilhelm (Saarbrücken)
  • W. Oberschelp (Aachen)
  • W. Seggewiss (Bonn / Hoher List)



Report

Mittwoch, der 11. August 1999

Der Tag ist da! Trübe hat sich der Morgen erhoben. Eine ungewisse Erwartung steckt in uns, wir schlendern zu unserem Reisebus.

Unsere Gruppe hat sich vorgestern gebildet: Ein Seminar im Informatik-Zentrum Schloß Dagstuhl im Saarland hat uns zusammengeführt, Informatiker, Astronomen, Mathematiker und Historiker, Wissenschaftler und Studenten, Begleiter und und Angehörige. Heute ist der Höhepunkt unserer Tagung, die totale Sonnenfinsternis wird sich um 12.30 Uhr einstellen. "Astronomie und Informatik" ist unser wissenschaftliches Seminar-Thema: Data Mining für die Astronomie, Funktionale Programmierung und das Mehrkörperproblem, Bahnberechnung für künstliche Satelliten, dies waren einige der Themen bisher.

Vor allem aber: Wir wissen bereits alles über diese Sonnenfinsternis. Die himmelsmechanische Erklärung dieses Vorgangs ist von uns untersucht worden. Computer-Animationen mit dem phantastischen Redshift-Programm haben uns den Ablauf der heutigen Finsternis auf einer Computer-Leinwand in Minuten-Abständen gezeigt, vorwärts und zurück und dann wieder von vorn. Pünktlich um 12.30 Uhr virtueller Zeit trübte sich auf der Leinwand der zunächst blau animierte Himmel, der graue Mond hatte die gelbe Sonne vollständig bedeckt und am dunklen Himmel erschienen Sterne, deren Namen uns das Programm durch eine Klick willig preisgab: Venus links unterhalb der Sonne, Merkur rechts oben, dazu der Orion und Sirius. Ein kurzer Blick, nur zwei Minuten lang, wurde uns verheißen - ein Blick auf eine Sternen-Szenerie, die sonst nur im Winter sichtbar ist, und auf die beidcn sonnennächsten Planeten, deren Schein in diesen Tagen vom Glanz der Sonne überstrahlt wird.

Unser Historiker ist besonders gespannt auf Merkur, den er trotz mehrerer Versuche noch nie gesehen hat; es ging ihm bisher genau wie Kopernikus, dem ein Blick auf diesen Planeten zeitlebens angeblich nie vergönnt war. Heute soll der Mond die Sonne bedecken und die Beobachtung ihres nächsten Trabanten ermöglichen.

Doch wir wissen noch mehr: Weiße Bett-Tücher sind in den Vorausbus unserer Expedition eingepackt worden, um das Phänomen der fliegenden Schatten kurz vor der Totalität nachzukontrollieren. Der Astronom von der Eifel-Sternwarte hat das transportable Teleskop beschafft, mit dessen Hilfe wir die einzelnen Phasen auf einem tellergroßen Metall-Schirm indirekt beobachten können. Der Mathematiker aus Kiel, der einzige unter uns, der schon eine totale Sonnenfinsternis erlebt hat - sogar mehrere, packt seine dicke Astro-Kamera in eine Kiste. Die Mitarbeiter des Instituts verstauen ein Schutz- und Fest-Zelt in den Vorausbus, dazu Kästen mit Getränken, Kaffeekannen, Wannen mit belegten Brötchen und Kuchen. Heute bleibt die Küche kalt!

Haben wir auch die Papp-Brillen mit der schützenden Alu-Schicht nicht vergessen? Eine große Spezialfolie wird in passende Stücke zerschnitten, auch eine (offiziell nicht empfohlene) Lebenrettungsfolie erscheint verstohlen auf der Bildfläche. Mittels Tesafilm sollen Objektive von Kameras und Feldstechern verdeckt werden. Stative wandern in den Bus. Es ist eine Stimmung, wie sie eine Gruppe haben mag, die eine Bergbesteigung plant und bangt, ob das Wetter mitspielen wird. Doch es wird keine großen Anstrengungen geben, stattdessen aber einen strikten Zeitplan, den wir nicht mehr manipulieren können.

Klappstühle und Bänke zum Ausruhen in der langen Zeit zwischen 11 und 14 Uhr wurden schon eingepackt. Freunde und Verwandte sind noch gestern abend zu uns gestoßen, eine stattliche Kinderschar sorgt für Leben und Wirbel. Die Informatik-Studenten, die uns gestern die Produkte ihrer in einem Seminar erstellten eigenen Himmels-Animationen vorgeführt haben, nehmen Kontakt mit ihren Freundinnen und Freunden auf, die heute nacht in der Nähe kampiert haben. Der Astronom ruft nach Sherpas, die ihm beim Hereintragen des Teleskops helfen - die Expedition ist startklar!

Ein kleiner Hund ist ebenfalls mit von der Partie; er ahnt nichts vom Hintergrund des Trubels um ihn herum, vor allem nicht, daß sein Verhalten in den kritischen Minuten genau beobachtet werden soll. Die Besitzerin spitzt schon den Bleistift und bereitet in aller Form ihr Beobachtungsprotokoll vor. Und die bunte Schar der Mitarbeiter des Instituts, das Büro, die Küche und der technische Dienst, sie alle fahren mit und freuen sich auf einen der sicherlich ungewöhnlichsten Tage ihrer Dienstzeit.

Doch wird unsere Expedition ihr Ziel erreichen, wird uns das Wetter den Blick auf die verfinsterte Sonne gestatten? Die Studenten haben soeben die letzten Vorhersagen aus dem Internet abgerufen. Die Webseite "Donnerwetter" ist anderer Meinung als der See-Wetterbericht, und die Leitungen zum Deutschen Wetterdienst verzeichnen einen völligen Blackout - ganz Deutschland fragt momentan nach dem Wetter!

Welchen persönlichen Wert für uns hat unser heutiges Unternehmen? Dient es nur noch dazu, etwas abzuhaken, was ohnehin schon jeder bis in die Einzelheiten kennt? - Niemand denkt so! Wir haben das Gefühl einer Vorfreude, wie wenn man die Pyramiden zum ersten Male leibhaftig zu sehen bekommt, wenngleich man schon alles über sie weiß.

Wir Seminar-Teilnehmer wissen aber noch viel,viel mehr: Die Stimme Adalbert Stifters klingt uns im Ohr, seine unsterbliche Beschreibung der Wiener Sonnenfinsternis von 1842: "Nie, Nie in meinem ganzen Leben werde ich..." Wir haben es gestern abend noch einmal gehört, nur wenigen von uns war diese Schilderung noch unbekannt. Wir wissen um die Bedeutung einer Sonnenfinsternis für den Menschen der Vorzeit; die Finsternis bei der Kreuzigung Jesu haben wir ebenso besprochen wie Einsteins Finsternis von 1919, welche die Ablenkung der Lichtstrahlen im Schwerefeld der Sonne bestätigte und damit die allgemeine Relativitätstheorie. Wir spekulieren über die heute zu erwartende Form der Sonnen-Korona. Es ist uns bekannt, daß sie vom augenblicklichen Sonnenflecken-Status abhängt, und diesen haben wir bereits gestern im Hof des Institus mit dem Eifel-Teleskop beobachten können.

Wir haben in einem literarischen Exkurs auch Nostradamus und seine mysteriöse Unglücksprognose für den Juli 1999 besprochen. Mit kritischer Skepsie haben wir erarbeitet, daß unter Berücksichtigung der gregorianischen Kalender-Reform übermorgen, also Freitag, der 13.August 1999, das späteste Datum ist, zu dem ein die Welt betreffendes Unheil noch als von Nostradamus vorhergesagt akzeptiert werden kann.

Wie werden die anderen Menschen reagieren? Der sorgfältig von einer Voraustruppe des Instituts bereits vor Wochen ausgewählte Beobachtungsort wird ein Wiesenacker direkt an der Grenze zum französischen Lothringen sein, mit freiem Blick nach allen Seiten. Der Bauer hat unserer Gruppe die Benutzung gestattet. Obwohl unser Institut selbst auch in der Kernschattenzone liegt, wollen wir noch näher an die zentrale Verfinsterungslinie heran, die Ideallinie ist bis auf wenige Meter genau bekannt, sie verläuft bei Saarlouis kurz jenseits der französischen Grenze. Doch es kommt nicht auf einen Kilometer Abweichung von dieser Linie an, denn die gesamte "kritische Zone" ist etwa 100 km breit.

Wird unser Bus die 25 Kilometer zum Ziel ohne Stau schaffen? Werden wir in lange Autokolonnen eingekeilt sein, oder wird dieses Schauspiel nur wenig Anklang finden?

Wir sind Eingeweihte! Der heutige Tag hat für uns seine Schatten seit Monaten vorausgeworfen. Aber die meisten anderen Menschen sind ja erst seit einigen Tagen auf das Himmels-Spektakel hingewiesen worden. Noch vor wenigen Wochen wurde in unserer Lokalzeitung die geplante Exkursion eines Heimatvereins in die Totalitätszone unter Bereitstellung von Schutzbrillen als eine unglaubliche Skurrilität unter der Überschrift "Auch das gibt's" verspottet. Doch seit wenigen Tagen balgen sich die Leute in den Kaufhäusern um die allerletzten Restbestände dieser Brillen.

Welch ein Glück: Die Direktion des Instituts hat durchgehalten und dieses ganz ungewöhnliche Seminar von Anfang an ohne Wenn und Aber unterstützt.

Eine totale Sonnenfinsternis ist mit ihrer Wirkung auf die Masssen kaum untersucht. Sie ist logistisch anders zu bewältigen als eine Großveranstaltung, die routinemäßig in den Terminkalender kommt. Die letzten Erfahrungen mit einer totalen Sonnenfinsternis konnte man im westlichen Mitteleuropa 1842 sammeln, seitdem hat sich doch einiges in der Psychologie der Massen und in deren Mobilität gewandelt! Das Kokettieren mit dem nächsten Termin in Deutschland am 3. September 2081 hinterläßt in mir einen Stich: Das werde ich nicht mehr erleben!

Die Karawane startet - im Gefolge unseres Busses einige PKW mit weiteren Gruppenteilnehmern. Wir nähern uns der großen Saar-Transversale, der Autoverkehr wird zäher. Hat dies aber überhaupt mit der Sonnenfinsternis zu tun? Die Menschen in den anderen Autos sehen so normal aus - läuft hier nicht doch der gewöhnliche Verkehr in einem industriellen Vorort? Ein Blick auf die Autokennzeichen belehrt uns: Niederlande, Hamburg, Köln und Bremen - wir sind mitten in der Anreisewelle!

Wir wissen ja, daß alle diese Menschen nicht auf einen Punkt hinstreben, sondern auf eine ununterbrochene Linie, die sich von Frankreich bis weit hinter Rumänien auch quer durch Süddeutschland hinzieht. Wer geographisch unsicher ist, mag die großen Zentren mit vorbereitetem Sonnenfinsternis-Programm ansteuern, Stuttgart vor allem, München, Karlsruhe und Saarbrücken. Der Individualist aber hat seine eigene Strategie für die Auswahl des optimalen Beobachtungs-Standortes.

Der Wetterbericht hat dem Saarland die besten Wetterchancen zugesprochen. Wie schnell reagieren Ameisen auf ein zentrales Signal? Wenn wir wirklich das große Wetterlos gezogen haben sollten, wird uns dann Schadenfreude überkommen? Einige von uns durchforschen die finstersten Ecken ihres Unterbewußtseins. Wir grübeln darüber nach, was mit uns mental geschehen mag, wenn uns das Schicksal in Form einer dichten Wolke, die sich vor die Sonne gestellt hat, ereilen sollte. Eine Lotterie mit 60% Gewinnchancen, mit dieser Kenntnis sitzen wir im Bus und steuern unserem Ziel entgegen, eine Zeitreserve von einer Stunde ist eingeplant.

Doch alles geht recht glatt, und kurz vor 11 Uhr erreichen wir das Dorf Berus und streben dem auserwählten Gelände zu. Ein letztes Problem für unseren Bus beim Einparken vor einem Sportplatz: Hier halten bereits acht Busse, aus denen Schüler eines Gymnasiums bei Köln herausquellen - wir hören, daß die Gemeinde der Schule diesen Platz zur Verfügung gestellt hat. Alle Achtung vor dem Unternehmungsgeist der Lehrer dieser Schule!

Gemächlich gehen wir zu unserem Acker. An der Spitze einer flachen Anhöhe sehen wir das Zelt, das unser Voraustrupp bereits errichtet hat. Wir sind nicht ganz unter uns dort oben, einige andere Beobachter haben sich hier ebenfalls niedergelassen, ein Wohnwagen parkt in der Nähe. Es kann losgehen, 11 Uhr, bald wird der "Erste Kontakt" sein.

Die Sonne ist durch den wolkenverhangenen Himmel hindurch nur zu ahnen, irgendwo gibt es aber auch kleine Wolkenlöcher, die uns eine allerletzte Hoffnung lassen. Schon bereiten wir uns auf das Schlimmste vor - jedenfalls wird es nicht in Strömen regnen, und wenigstens ein freier Blick auf die Dunkelheit, die uns zwei Minuten lang um 12.30 Uhr überziehen wird, müßte uns gelingen! Unverdrossen werden letzte Vorkehrungen getroffen, Kameras und Feldstecher werden endgültig mit Sonnenfinsternisfolie verklebt, das große Teleskop wird einjustiert, ebenso das astronomische Accessoire unserer Kamera-Experten.

Ein Täßchen Kaffee aus dem Pappbecher; - verlangend und etwas verdrossen blicken wir zum Himmel, an dem sich die Sonne nur durch eine geringe Aufhellung verrät. Doch nun kommt doch eine kleine Lücke und mit ihr ein überraschtes Gerufe - es hat bereits begonnen! Deutlich zeigt sich am rechten oberen Rand der Sonne durch die Wolken hindurch die von uns bereits erwartete Eindellung durch den Mond; der erste Kontakt hat bereits stattgefunden. Kein Bedarf für eine Schutzbrille - mit bloßem Auge können wir bei dieser dichten Bewölkung die Verdeckung der Sonne mühelos erkennen. Und dann zeigt sich tatsächlich eine echte Wolkenlücke. Rufe! Vorsicht! Sonnenbrille! Nun sehen wir auch durch die zunächst undurchdringlich erscheinende Metallfolie der Brille deutlich die erste Phase. Aber schon schieben sich wieder graue Wolken davor.

Die Stimmung steigt vorsichtig - wenigstens etwas haben wir bereits gesehen. Wir bemerken, daß unsere Wohnwagen-Nachbarn ihr großes Außenfenster geöffnet haben und uns den Blick auf einen Minifernseher freigeben, so daß wir die laufende TV-Reportage verfolgen können. Eine Animation zeigt - eingeblendet in eine Landkarte - die Stelle, an der sich der schwarze Fleck der zentralen Finsternis momentan befindet, soeben berührt er die Scilly Islands vor Cornwall. Es geht los in Europa!

Eine Reporterin berichtet in unsäglicher Inkompetenz über ihre Eindrücke am Strand von Cornwall, der schwarz von Menschen ist. Es ist trübe dort, und mangels vorzeigbaren Himmelseindrücken muß die Sprecherin auf vorbereitete esoterische Druidenthemen ausweichen.

Ein neuer Blick zu unserem Himmel: Es gibt kleine blaue Löcher dort, aber aus welcher Richtung kommen die Wolken, und werden sie uns im entscheidenden Moment um 12.30 Uhr einen solchen Flecken zublasen? Immer einmal wieder können wir durch den Grauschleier den Fortschritt des Mondes vor der Sonnenscheibe direkt prüfen. Immer wieder bricht auch die Sonne kurz soweit durch, daß wir zu den Papp-Brillen greifen dürfen. Hat sich unsere Investition bereits gelohnt?

Nun ist bereits über die Hälfte der Sonnenscheibe verdeckt. Durch gelegentliche Wolkenlücken können wir den Fortgang der Entwicklung einigermaßen gut verfolgen. Ähnlich etwa wird es in Kopenhagen, der Heimat unserer dänischen Teilnehmer aussehen, wenn dort die partielle Finsternis auf dem Höhepunkt ist. Was nun noch kommt, wird darüber entscheiden, ob sich die Reise gelohnt hat.

Es ist bereits nach 12 Uhr geworden. Unser Dackel benimmt sich noch völlig normal und beißt eins der Kinder, das ihn zu sehr geneckt hat. Kein besonderes Vorkommnis! In uns steigt Hochachtung auf für die mittelalterlichen Menschen, die partielle Sonnenfinsternisse von der jetzigen Qualität bemerkt und als wichtige Ereignisse in Chroniken aufgezeichnet haben. Außer einer Trübung, die aber auch von einer Regenwolke herrühren könnte, ist momentan noch kaum etwas Außergewöhnliches zu bemerken; das Protokollblatt der Hundehalterin ist noch leer. Der Projektionsschirm des Teleskops zeigt in den kurzen Phasen durchbrechender Sonne diese an der rechten Seite bereits verdeckt. Die gestern hier deutlich sichtbaren Sonnenflecken sind nicht mehr sichtbar.

Nun hat die Sonne bereits Sichelgestalt. Der Blick durch den Wolkenvorhang erscheint uns gar nicht so unvertraut - so ähnlich sieht doch auch der abnehmende Mond aus! Is what? In den kurzen Perioden eines klaren Durchblicks schauen wir wieder durch unsere Schutzbrillen. Wir sehen hiermit aber nur die Sichel und damit den Fortgang der Finsternis, ansonsten aber isoliert uns die Brille von den übrigen Eindrücken aus der Umwelt.

Ein Blick aus der Menge der fernsehenden Beobachter heraus zeigt den schwarzen Punkt, der den Ärmelkanal überquert hat und soeben die französische Küste berührt. In Österreich soll es blauen Himmel geben; aber den Leuten in Stuttgart und München zeigt der Himmel auch kein freundlicheres Gesicht als uns. Der Blick aus einem Flugzeug auf die verfinsterte Sonne, der einmal eingeblendet wird, läßt mich gähnen: Es sieht aus wie bei unseren Animationen - ohne die irdische Umwelt wirken die Bilder wie mathematische Konstruktionen. Es müßte doch geniale Kameraleute geben, die es schaffen, auch aus dem Flugzeug heraus Bilder zu schießen, die uns faszinieren können! Und sicher wird es Aufnahmen von Satelliten geben, die den Schatten auf der Erde zeigen und damit uns! Ob es einmal Menschen auf dem Mond geben wird, die von seiner eisigen Nachtseite aus eine "Erdfinsternis" wie diese mit der rotierenden "Vollerde" zu uns übertragen werden? Redshift hat uns ja bereits gezeigt, wie so etwas aussehen wird. Wie schade, daß alles so schnell borübergeht und daß schon morgen, wenn wir wieder zuhause sein werden, kein Fernsehprogramm mehr solche Bilder zeigen wird - aus und vorbei.

Doch nun - 5 Minuten vor der Totalität - wird alles schnell ganz anders. Wir sehen nur noch eine schmale Sichel, ganz deutlich und ohne Gefahr durch die Wolken hindurch wahrzunehmen. Alle haben die Schutzbrillen bereits fortgelegt. Wir wissen ja schon, was wir hierdurch sehen oder auch nicht sehen würden, und alle unsere auf Empfang gestellten Sensoren wollen mehr aufnehmen. Ein unbeschreiblich fahles, ja außerirdisches Licht hüllt uns ein und der Hund legt sich zur Ruhe. Irgendjemand hat das weiße Tuch aufgespannt, aber niemand schaut hin. Wir blicken gebannt auf den Himmelssektor, der für dieses Licht verantwortlich ist: Gibt es Hoffnung auf ein Wolkenloch? Dort vorne ist eins. Ja, es ist sogar recht groß und würde für einige Minuten Sicht ausreichen. Ob es uns zur rechten Zeit geschenkt werden wird?

Die Sonne wird zu einer dünnen Schneide - jemand ruft "ein Regenbogen!".In der Tat, ein glänzender, schillernder Kranz, aber in anderen Farben als denen des Regenbogens, viel weißer. Der Halo von etwa dreifachem Sonnendurchmesser zeichnet sich scharf im Wirrwarr der Wolken ab. Und nun ein Schrei - "ich sehe den Mond!" Jawohl, auch der rechte Rand des Mondes ist nun deutlich von den Wolken abgehoben. Dieser Mond ist für einen Moment nicht mehr die schwarze zweidimensionale Scheibe, die wie ein Deckel der Sonne ihr Licht mehr und mehr raubt, sondern er steht neben der Sichel deutlich in seiner vollen Gänze erkennbar unheimlich da!

Haarfein ist die Sichel links nun, man hört das Wort "Perlschnur" -

und dann ist das Licht aus !

Vollständig versteckt sich die Sonne in der gnädig aufgerissenen, jetzt taubenblau scheinenden Wolkenlücke hinter dem dunkelgrauen, aber nicht völlig schwarzen Mond. Dieser Mond trägt einen breiten Heiligenschein, weiß schimmert die Korona um ihn herum, alle schauen gebannt hin -

das ist es !

Ich will ein Wort sagen, auf irgendetwas hinweisen, doch meine Nachbarin herrscht mich an: "Sei still jetzt" - sie hat recht. Unter unseren unartikulierten Rufen des Staunens zeigt sich uns dieses Schauspiel - das Bild prägt sich unauslöschlich ein. Völlig lautlos steht diese Figur am Himmel, gemalt mit der unbarmherzigen Präzision eines Kosmos, der genauer rechnet als unsere Uhr. Wie ein fragiles Kunstwerk, beinahe kreissymmetrisch und kunstvoll entworfen. Ich vermeine ein leichtes Flackern zu sehen und denke im Unterbewußtsein - wie mir erst hinterher klar wird - an eine kreisrunde Leuchtröhre, die defekt ist und mit ihrem Restlicht flackert und dadurch der Szene ein mildes Licht verleiht, in dem helle Sterne scheinen könnten.

Wo sind Venus, Merkur und die anderen Sterne? War dort unten links ein kurzes Aufflackern des Abendsterns, der sich seit einigen Tagen vom Abendhimmel verabschiedet hat? Nein, die Wolken umrahmen unser Bild zu eng!

Doch schon erscheint am rechten Rand des Mondes etwas strahlend Weißes, laute Schreie "das Licht - die Perlschnur - der Diamant". Mit unglaublicher Dynamik stürmt ein punktförmiger Lichtbogen, der vor Intensität überzuschäumen scheint, auf unsere Netzhaut. Das Licht wird heller und quillt über seine Grenzen wie bei einer surrealen Explosion auf kleinstem Raum. Heraus wieder mit den Brillen, dort die feine Sichel ist jetzt auf der rechten Seite des Mondes!

Die völlige Dunkelheit ist schon wieder gewichen. Rufe: "Wie schade, schon vorbei!" Auf dem immer noch im tiefen Dämmerschein liegenden Nachbar-Acker kauert ein Mensch, der fern von uns allen dieses Bild in sich aufnimmt. Der Kameramann stöhnt, er hat im entscheidenden Moment die Taschenlampe nicht sofort zur Hand gehabt und dadurch eine Einstellung verpatzt. Und ein spontaner Ruf ertönt: "Es werde Licht! Das ist die Musik der Schöpfung von Haydn!"

Im Osten steht nun eine völlig schwarze Wand. Kein heller Horizont rundum, wie es vorhergesagt war, auch im Westen ist es nur grau, aber ganz anders als in der Richtung, in die nun die Finsternis hineinstürmt.

Schon wieder ist eine Wolke vor unserer Szene und dann wird es ziemlich rasch immer heller. Wir sehen im Süden die erleuchtete Silhouette eines Hüttenwerkes. Offensichtlich sind die Lichter während der Finsternis angegangen.

Wir versuchen, aus unserem Kurzzeit-Gedächtnis noch einige Eindrücke zu retten. Einige haben Protuberanzen gesehen; andere sahen den Schatten von Westen her herankommen als dunkle dreidimensionale Substanz, gruselig wie in einem Science-Fiction-Film; niemand aber hat nach den fliegenden Schatten auf den weißen Tüchern geschaut.

Jeder von uns verarbeitet seine eigenen Erlebnisse, aber wir sind plötzlich zu einer Gemeinschaft von Menschen geworden, denen der Himmel ein Geschenk in Form einer Wolkenlücke gegeben hat. Alle sind unendlich glücklich und froh, spontan möchte ich jedem meiner Nachbarn zu unserem Erlebnis gratulieren. Ach ja, auch Adalbert Stifter und seine damaligen Nachbarn hatten Ähnliches empfunden - wir sind alle zu einer Erlebnisgemeinschaft geworden.

Der Höhepunkt ist nun vorüber. Mit wissenschaftlicher Pflichttreue versuchen wir, auch die letzten Phasen der Finsternis noch zu beobachten. Doch wir erkennen, daß man diese Dramaturgie nicht vom Höhepunkt her rückwärts inszenieren kann - die Luft ist einfach raus!

Es war ein Schauspiel für die Augen , alles am Himmel vollzog sich schweigend. Nicht mit Blitz und Donner, mit dem der irdische Himmel uns seine Launen zeigen kann. Diese Finsternis, dieser Schatten kam aus einer ganz weiten Ferne, aus einer Distanz, die jenseits des Bereiches liegt, der unseren Ohren zugänglich ist. Eine von uns betete inbrünstig um eine Wolkenlücke - ich weiß davon. Für die anderen, die mehr zu wissen glauben, waren auch die Wolken im Prinzip genau wie sonst Blitz und Donner von Anfang an vorherbestimmt. Doch wissen diese anderen es wirklich "besser"?

Ich frage mich, was mir eigentlich diese zwei Minuten so unvergleichlich erscheinen läßt. Andere Höhepunkte, von Menschen veranstaltet, haben doch ebenfalls ihre mitreißende Dramatik! Die Entzündung des olympischen Feuers, die Ankunft des Siegers im Marathon-Lauf, das Erscheinen des Stars auf der Bühne, der Hochzeitskuß bei der Fürstenhochzeit. Was war heute anders?

Heute hatte kein Mensch das Geschehen in der Hand, keine Begleitmusik, weder Donner noch Blitz unterstützten diesen Ablauf, von dessen genauem Zeitplan wir seit langer Zeit wußten. Wir erlebten etwas, das zuverlässiger ist als jede Prophetie: Keine Besinnungspause wird dem Beobachter gegeben - der Mensch sieht, wenn er da ist, dem unabänderlichen und kaltherzigen - wenn auch hier nicht bösartigen - Lauf der kosmischen Gestirne zu, ein Applaus erübrigt sich.

Waren diese Minuten für uns wissende Menschen gemacht? Nein, wir waren nur die Zuschauer, die das Glück hatten, durch einen Zipfel der Wolken die Gewalt des Kosmos zu ahnen, die mathematische Konsequenz einer Planung, die weit vor unserer Zeit und fern von unserer Erde begann. Wir konnten durch eine kleine Öffnung sehen, durch ein Fenster, das wir zwar dank unserem Wissen berechnen konnten, bei dem wir aber bis zum letzten Augenblick darum zittern mußten, ob der irdische Himmel es für uns öffnen würde.

Walter Oberschelp (Aachen)


Participants
  • R. Wilhelm (Saarbrücken)
  • W. Oberschelp (Aachen)
  • W. Seggewiss (Bonn / Hoher List)